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Kommentar

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Beitrag vom 15.03.2000
Betreff: Lohnzurückhaltung und Beschäftigung
von: Günther Grunert
E-mail: Guenther.Grunert@t-online


Drei Punkte möchte ich zu Ihrer Argumentation im "Wirtschaftsdienst" 2/2000 ("Lohnzurückhaltung für mehr Beschäftigung? - Über eine zentrale Inkonsistenz im jüngsten SVR-Gutachten") anmerken:

Wenn ich es richtig sehe, knüpfen Sie in Ihrer Argumentation im Prinzip an die Position von Keynes an (vgl. "The General Theory of Employment, Interest and Money" und hier speziell Kap. 19): Lohnsenkungen können sich zuerst immer nur auf den Nominallohnsatz (und nicht auf den Reallohnsatz!) beziehen, da stets nur über Nominallöhne verhandelt wird. Da eine Lohnsenkung über eine Nachfrageschwächung eine Reduktion des Preisniveaus bewirkt (die Kostensenkungen in Form von Preissenkungen weitergegeben werden), kommt es zu keiner Senkung der Reallöhne und ein Beschäftigungseffekt ist mithin ausgeschlossen - selbst unter der Annahme einer inversen Beziehung zwischen Reallohnsatz und Beschäftigung. Insbesondere Joan Robinson betont in Anlehnung an Keynes noch einen weiteren Punkt: Der genannte Deflationseffekt einer Lohnsenkung erhöht - unter sonst gleichen Umständen - die Schuldenlast der Unternehmen, lässt die Realzinsen steigen, schwächt damit die Investitionsbereitschaft der Unternehmen und verschlechtert auf diesem Wege möglicherweise noch die Beschäftigungssituation (vgl. z. B. J. Robinson, "What are the Questions?", New York 1980, 34f und 49).

So plausibel diese Argumentation auch ist, es bleibt ein Problem: Betrachtet man sich Ihre beiden "extremen Fälle" (konstante Nominallöhne bei permanentem Produktivitätszuwachs; permanenter Anstieg der Nominallöhne im Tempo des Produktivitätsfortschritts zuzüglich der Zielinflationsrate, vgl. S. 86), die beide (vom allgemeinen Preisniveau abgesehen) zu gleichwertigen Ergebnissen führen, so stellt sich die Frage, ob nicht alle gewerkschaftliche Lohnpolitik eine reine Farce ist. Provokant formuliert: Warum verzichten die Gewerkschaften nicht einfach auf alle (zeit- und vor allem kostenintensiven) Tarifauseinandersetzungen, warum lassen sie sich nicht einfach auf unveränderte Nominallöhne ein, die dann ja über sinkende Preise zu den gleichen (oder ähnlichen) Reallohnsteigerungen führen wie hart erkämpfte (Nominal-) Lohnsteigerungen? Da man den Gewerkschaften ja wohl kaum die "Deflationsverhinderung" als primäres Ziel ihrer Tarifpolitik unterstellen kann, handeln sie also irrational?

Es ist natürlich richtig, dass eine Lohnzurückhaltung bei (kurz- oder mittelfristig) inflexiblen Preisen (und bei einer nicht sinkenden Sparquote der privaten Haushalte) zu einer fallenden Gesamtnachfrage führt, wenn nicht die Unternehmen sofort nach Tarifabschluss zusätzliche Arbeitskräfte einstellen oder entsprechend der ausfallenden Konsumnachfrage investieren oder konsumieren. Diese Gefahr eines negativen Nachfrageeffekts besteht tatsächlich und insofern stimme ich Ihnen zu, dass Lohnzurückhaltung ein äußerst zweifelhaftes Instrument zur Lösung der Beschäftigungsprobleme darstellt. Allerdings bin ich nicht so sicher, ob dieser Nachfrageausfall wirklich so unvermeidlich ist: Ist wirklich auszuschließen, dass sich bei Lohnzurückhaltung die Gewinnerwartungen der Unternehmen verbessern (auch durch die Erwartung einer verbesserten internationalen Wettbewerbsfähigkeit), so dass der Nachfrageausfall sehr rasch durch Mehreinstellungen, eine zusätzliche Nachfrage höherer Einkommensschichten und/oder durch zusätzliche Investitionsnachfrage (zumindest großenteils) kompensiert wird? Um Missverständnissen vorzubeugen: Damit bleibt die Empfehlung einer Lohnzurückhaltung problematisch, aber nicht, weil letztere zwangsläufig zu einem negativen Nachfrageeffekt führt, sondern weil ihr Effekt nicht prognostizierbar ist und auch negative Auswirkungen durchaus im Bereich des Möglichen liegen.

Ebenso problematisch wie die von Ihnen hervorgehobenen Kritikpunkte erscheint mir im übrigen der insbesondere von Horst Siebert, einem Mitglied des Rates, propagierte Substitutionseffekt einer Lohnzurückhaltung, nach dem die Beschäftigung steigt, wenn sich Arbeit gegenüber Kapital relativ verbilligt. Diese Argumentation, die in den Medien häufig mit Slogans wie "Jobs statt Maschinen" (NOZ, 12. 7. 99) kolportiert wird, überrascht umso mehr, als sie nicht selten aus der gleichen Ecke kommt, die (nicht ganz zu Unrecht) immer wieder behauptet, dass technischer Fortschritt - auch arbeitssparender technischer Fortschritt - per saldo nicht notwendigerweise Arbeitsplätze koste, da die Einführung neuer Technologien mit einem Anstieg der Investitionen verbunden sei, der zu zusätzlicher Beschäftigung in den Investitionsgüter produzierenden Unternehmen führe und damit die Arbeitsplatzverluste an anderer Stelle ausgleiche. Nun soll plötzlich die "Rücknahme" des technischen Fortschritts, d. h. die Rückkehr zu arbeitsintensiverer Technik, die Beschäftigung immens erhöhen! Natürlich muss die umgekehrte Argumentation in symmetrischer Weise lauten: Kehren die Unternehmen zu einer arbeitsintensiveren Technik zurück, so impliziert dies verringerte Investitionen, wodurch die Beschäftigung in der Kapitalgüterproduktion sinkt. Der durch die Substitution erzeugte gesamtwirtschaftliche Beschäftigungseffekt kann daher nicht sehr groß sein; in keinem Fall aber lässt sich das Beschäftigungsproblem durch eine Veränderung des Faktoreinsatzverhältnisses lösen! Selbst unter der - m. E. wenig realistischen - Annahme, dass es tatsächlich relevante Substitutionsmöglichkeiten zwischen Arbeit und Kapital gibt und dass die Unternehmen diese der Reallohnentwicklung entsprechend ausnutzen, ist mithin die "Substitutionsargumentation" wenig überzeugend.